Wann gilt ein Kitz als verwaist?
Ein Erfahrungsbericht von unserem Fachautor Michael Jüngling.
Leider wird immer wieder vermeintlich verwaistes Jungwild durch den Menschen der Natur mit besten Absichten entnommen. Oft handelt es sich hierbei um Rehkitze. Man hört in einer Wiese oder im Wald ein Kitz fiepen, geht der Sache nach und findet es auf ohne die Muttergeiß in Anblick zu bekommen. Hierbei ergibt sich schnell der falsche Rückschluss, das Kitz sei verwaist und es wird in menschliche Obhut genommen. Allerdings ist ein abgelegtes Kitz nichts Ungewöhnliches. In aller Regel befindet sich die Muttergeiß in der Nähe. Nähert sich ein Mensch, wird sie sich zurückziehen. Insbesondere in der bevorstehenden Blattzeit sind die Kitze zumindest zeitweise auf sich selbst gestellt. Sie verlassen dann auch schon einmal das Lager und erkunden die Umgebung. Werden sie hungrig oder droht Gefahr, machen sie durch Fieplaute auf sich aufmerksam, woraufhin die Geiß meist in kürzester Zeit zur Stelle ist.
Es gibt jedoch auch Fälle, in welchen ein Jungtier menschlicher Hilfe bedarf. Ist das Muttertier verunfallt, durch Krankheit verendet oder durch einen Beutegreifer gerissen, hat es kaum Überlebenschancen. Diese Fälle müssen wir als Jäger erkennen und je nach Situation handeln.
Auf das abgebildete Kitz wurde einen Revierförster beim Auszeichen von Käferholz durch anhaltendes Fiepen aufmerksam. Nach einiger Zeit bemerkte er das Kitz wenige Meter vor sich und nahm es in Augenschein. Es erschien geschwächt, hatte einen schlechten Pflegezustand und der Kopfbereich war voller Fliegeneier. Der Revierförster verließ daraufhin die Örtlichkeit und nahm mit mir als zuständigem Jagdleiter Kontakt auf. Eine Stunde später waren wir zusammen vor Ort, ohne dass sich die Situation verändert hatte. Das Kitz hatte, obwohl es schon etwa drei Wochen alt ist keinerlei Fluchtinstinkt. An dem mit Fliegeneiern übersäten Kopfbereich bemerkte ich zudem verkrusteten Schweiß, was für eine Verletzung spricht. Nach Abwägen der Situation traf ich die Entscheidung das Kitz mitzunehmen und durch einen befreundeten Tierarzt erstversorgen zu lassen. Beim Lösen der Fliegeneier fanden wir drei wohl durch Rabenvögel verursachte, oberflächliche Hackspuren auf dem Oberschädel. Da das Kitz Anzeichen der Dehydration zeigte, bekam es zudem eine Infusion. Nun konnte es in einem stabilisierten Zustand der Wildtierauffangstation übergeben werden, wo es seine erste Milchration gierig annahm.
Für dieses Jungtier war es Rettung in letzter Sekunde, es hat gute Chancen durchzukommen. Als Jäger müssen wir solche Situationen richtig interpretieren können und adäquat handeln!